Reflexion Postapo-Kasten Pt.#4

80 Stunden Rolle

Es war eigentlich klar, dass wir jede Menge Spaß haben werden. Natürlich ist es irgendwie etwas absurd, dass Kili 18 Stunden pro Tag am am Zeichnen ist und nicht mal weiß, welche Preise Lukas mal wieder dafür ausgehandelt hat, mit denen er eh nichts anfangen kann, weil er ja viel zu beschäftigt mit Zeichnen ist. Natürlich macht das Ganze aber viel zu viel Spaß, sich so als Rockstar zu fühlen.
Morgens um zehn wird man, völlig verkatert nach 4 Stunden Schlaf, von drei Mädels geweckt, die mit Nutella, Kaffee und Croissants in den Bauwagen kommen und Geschichten vom vorigen Tag hören wollen – weil man ihnen dafür eine erinnerte Anekdote aus Amsterdam in Comicform umsetzt. Natürlich ist das ein gewaltiges Rauschgefühl, der Endorphinstoß alle paar Stunden, einen Auftrag abgeschlossen zu haben, für den man sich im echten Leben tagelang Zeit ließe und hunderte von Euro nähme, und hier nur die Vorfreude auf den Übergabe-Moment, wenn der Mäzen wieder da ist und man ihm endlich den Gitarrensong auf seine große, gewaltige Liebe über Ländergrenzen vorspielen können wird. Es gab ja auch tatsächlich Freudentränen. Und vielleicht fügt man dann, im Moment der Stille nach dem Absetzen der Gitarre süffisant grinsend hinzu, „und das war unsere Kastenwesenkunst! Wollt ihr einen Abstimmungs-Zettel für den Publikums-Preis?“
Problematisch war auch nie diese Überlebens-Geschichte! Klar kennen uns hier genug Leute, dass wir immer zu Essen haben werden. Der erste unheimliche Gedanke stellte sich an ganz anderer Stelle ein: Am Donnerstag haben Kili und Lukas sich zum ersten (und einzigen) Mal ein anderes Arena-Stück angeschaut (Red Bind), um mal den Kopf frei zu bekommen, weil ein echtes Kreativloch bestand und noch so viele Texte zu schreiben waren, von denen jeder einzelne inspiriert sein musste. Einfach mal raus kommen. An der Kasse vor dem Spielort die übliche Begrüßung, die wir mittlerweile schon gewohnt waren: „Wie ihr dürft aus dem Kasten raus?“ Das war so ziemlich der einzige Satz, den wir 80 Stunden lang zu hören bekommen haben, wenn wir mal im Festivalzentrum, im Kaffee oder an anderen Spielorten vorbeigeschaut haben. Oh, es gab noch „Wer hat euch denn heraus gelassen?“ und „dürft ihr überhaupt hier sein?“ Und jedes einzelne Gespräch dreht sich ausschließlich darum, ob wir gerade versorgt sind, wie die Preise im Moment so sind – und natürlich, ob Kili gerade noch was zeichnen kann.
Da fällt Lukas plötzlich auf, dass diese Ansage „wir machen 80 Stunden Performance“ nicht nur ein Spruch oder ein Konzept ist, sondern dass es wirklich gerade unmöglich ist, anderen Arena-Mitgliedern, Künstlern, Helfern oder Bekannten außerhalb der Rolle zu begegnen, auf Augenhöhe zu begegnen, ein einziges normales Gespräch zu führen. Dass wir das Festival verpassen würden, also keine anderen Stücke sehen würden, das war vorher klar. Dass wir aber auch dann von allen Anderen getrennt sind, wenn wir uns mal zehn Minuten Auszeit nehmen, diese Einsicht hat plötzlich gesessen. Und das einzige, was Lukas einfällt, damit zu tun, ist: sie auf einem Taschennotizblock aufzuschreiben, um sie später für diesen Reflexionstext zu verwenden (und das einzige, an das ich mich bei Red Bind erinnern kann, ist, dass ich darüber nachgedacht habe, warum die Banane krumm ist. Weil jemand das in Comicform erklärt haben wollte).
Irgendjemand hat mal gefragt, ob „Kastenwesen“ etwas mit Indien zu tun haben soll. Nein, klar, wir sind nur Wesen, die in Kästen hausen. Das soll lustig sein. Wir wollen Spaß. Aber tatsächlich hat sich eine ganz eigene Kaste um uns herum gelegt wie eine luftdichte Kapsel, die wir mit uns herumtragen, die uns zwischenmenschlich vollständig von Anderen separiert. Essen, Wasser, Klopapier zu bekommen, das ist natürlich keine echte Bedrohung. Nicht aus dieser Rolle heraus zu können, das beginnt dem zweiten Tag an der mentalen Substanz zu kratzen, und man wird müde, nicht nur körperlich. Ob das auch eine Art von Spaß ist, das wird in ein paar Wochen in der Erinnerung ausgemacht.

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